Şimşek: Die strategische Sicht der EU auf die Türkei ist schwach

05/05/2024

DÜSSELDORF – Der Europäisch-Türkische Unternehmer- und Industriellenverband (ATİAD) veranstaltete in Düsseldorf den 8. Wirtschaftstag. Zu den Gästen der gut besuchten Veranstaltung zählten unter anderem der türkische Finanzminister Mehmet Şimşek sowie der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst. Ebenfalls anwesend waren der Botschafter der Republik Türkei in Deutschland (Berlin), Ahmet Başar Şen, sowie die Generalkonsuln der Türkei aus Düsseldorf, Essen, Köln und Münster.

Der eingeladene deutsche Finanzminister Christian Lindner und der Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Düsseldorf, Dr. Stephan Keller, nahmen mit jeweils einer Videobotschaft an der Veranstaltung teil.

Fokus auf Bildung

Nach der Eröffnungsrede des ATİAD-Vorsitzenden Aziz Sarıyar hielt zunächst der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst, eine Ansprache. In seiner Rede widmete sich Wüst neben den wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern ausführlich dem Thema Bildung.

Er betonte, dass erhebliche Investitionen in den Bildungsbereich getätigt würden, wies jedoch zugleich darauf hin, dass das Schulsystem deutlich hinter den Anforderungen zurückliege. Durch die Zuwanderung der letzten Jahre habe sich insbesondere das Sprachproblem weiter verschärft. Um dem zu begegnen, würden verstärkt Fachkräfte wie Sozialarbeiter und Pädagogen eingestellt, die direkt mit den Kindern arbeiten. Wüst unterstrich die große Bedeutung, die der Bildung der Kinder beigemessen werde, denen die Zukunft anvertraut sei.

Der Ministerpräsident sprach zudem über Künstliche Intelligenz und darüber, dass sie künftig in vielen Bereichen Aufgaben des Menschen übernehmen werde. Er hob hervor, dass Nordrhein-Westfalen zu den Regionen mit den höchsten Investitionen zähle und dass die Türkei unter den ausländischen Investoren zu den drei wichtigsten Ländern gehöre.

„Wir haben alles, was wir für beide Länder und für die Zukunft unserer jungen Generation brauchen“, sagte Wüst. Abschließend dankte er ATİAD als einer Institution, die eine Brückenfunktion zwischen beiden Ländern erfülle, und betonte, dass beide Länder stärker würden, wenn sie ihre wirtschaftlichen Beziehungen weiter ausbauten.

NRW Başbakanı Hendrik Wüst ATİAD 8. Ekonomi Günü ve izlenimler

NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst – ATİAD 8. Wirtschaftstag und Eindrücke

VERGISS DEINE WURZELN NICHT, ABER …

Ministerpräsident Hendrik Wüst wies auf die tief verwurzelten Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland hin und betonte, dass die Beziehungen zwischen der Türkei und Nordrhein-Westfalen jedoch besonders eng und stark seien. „Das hängt selbstverständlich eng mit Migration zusammen“, sagte Wüst und erinnerte an die Migrantinnen und Migranten, die seit Mitte der 1950er-Jahre nach Deutschland gekommen seien, um für sich selbst, ihre Kinder und Enkel eine bessere Zukunft aufzubauen.

Hendrik Wüst erklärte, dass die zugewanderte Arbeitskraft Deutschland gemeinsam mit den Deutschen aufgebaut habe und dass daraus die bis heute bestehenden starken Verbindungen entstanden seien. Er betonte, dass man die Herkunft nicht ständig in den Vordergrund stellen solle und dass Wurzeln nicht in jeder Situation eine zentrale Rolle spielen müssten.

Gleichzeitig unterstrich Ministerpräsident Wüst:
„Aber Wurzeln zu haben ist natürlich etwas Gutes, insbesondere in schwierigen Zeiten sollte man sie nicht vergessen. Gerade nach der Erdbebenkatastrophe in der Türkei bin ich stolz auf die Unternehmerinnen und Unternehmer, die ihre Wurzeln nicht vergessen und sofort Hilfe geleistet haben.“

Mit diesen Worten schloss Ministerpräsident Wüst seine Rede.

Die vollständige Rede von Ministerpräsident Wüst (auf Deutsch) können Sie im folgenden Video ansehen.

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WARUM DIE TÜRKEI?

Finanzminister Mehmet Şimşek begann seine Rede mit einer Begrüßung auf Deutsch. Şimşek erklärte, dass es in Deutschland viele Investoren gebe, und sagte: „Wir freuen uns darüber, dass türkische Unternehmer auch in Deutschland investieren, möchten jedoch, dass sie ebenfalls in der Türkei investieren.“

Als Antwort auf die Frage „Warum sollten Sie in der Türkei investieren?“ präsentierte Finanzminister Şimşek eine Darstellung zur aktuellen Lage der türkischen Wirtschaft sowie zum von der Regierung umgesetzten makroökonomischen Programm.

Maliye Bakanı Mehmet Şimşek  ATİAD 8. Ekonomi Günü ve izlenimler

Finanzminister Mehmet Şimşek – ATİAD 8. Wirtschaftstag und Eindrücke

Mehmet Şimşek erklärte, dass das durchschnittliche reale Wirtschaftswachstum in den vergangenen 20 Jahren bei 5,4 Prozent gelegen habe, und betonte, dass die Türkei ein großes Land mit einer in den letzten zwei Jahrzehnten starken wirtschaftlichen Entwicklung sei. Er wies darauf hin, dass seit 1961 Beziehungen zu Europa bestünden, und sagte:
„Auch wenn es in einigen politischen Fragen Meinungsverschiedenheiten gibt, betrachten wir Europa über die Zollunion als Freund. Daher stehen wir uns nahe und sind befreundet.“

In seinen Ausführungen zur wirtschaftlichen Entwicklung hob Mehmet Şimşek hervor, dass ein Programm zur Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen umgesetzt werde, und lenkte die Aufmerksamkeit auf die Infrastrukturinvestitionen:
„Natürlich nicht auf dem Niveau Deutschlands, aber in den vergangenen 20 Jahren haben wir fast 280 Milliarden US-Dollar in die Infrastruktur investiert. Laut dem Logistikindex der Weltbank verfügen wir über eine bessere Infrastruktur als 91 Schwellenländer.“

Şimşek unterstrich zudem die wichtige Rolle der kleinen und mittleren Unternehmen in der Wirtschaft und erklärte:
„Die KMU in der Türkei bilden das Rückgrat unserer Wirtschaft.“

ATİAD 8. Ekonomi Günü ve izlenimler

ATİAD – 8. Wirtschaftstag und Eindrücke

Wir sind der Überzeugung, dass ein deutlich stärkerer Dialog zwischen den kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland und in der Türkei im Interesse beider Länder liegt. In den vergangenen 20 Jahren haben wir zudem erhebliche Investitionen in das Technologie- und Innovationsökosystem getätigt. Dabei nehmen wir Deutschland durchaus als Vorbild, doch wir müssen diesen Dialog mit Deutschland weiter vertiefen. Und genau das wird mit Ihrer Unterstützung möglich sein“, sagte er.

Wir können uns niemals voneinander trennen. Wir haben sehr starke Verbindungen, und mit Ihrer Hilfe möchten wir diese noch weiter stärken.

55 Milliarden Euro Handelsvolumen

Mehmet Şimşek wies darauf hin, dass das Handelsvolumen zwischen beiden Ländern auf 55 Milliarden Euro gestiegen sei und dass mehr als 8.000 große und mittelständische Unternehmen investiert hätten. Er erklärte:

In der kommenden Zeit können wir mit Deutschland nicht nur den bilateralen Handel ausbauen, sondern auch gemeinsam Projekte in Afrika und Zentralasien realisieren. Wir haben eine Agenda mit der Europäischen Union, deren zentraler Punkt die Modernisierung der Zollunion ist, um Ihren Handel zu erleichtern.

Wir sind der Ansicht, dass eine Aktualisierung der Zollunion – einschließlich der Einbeziehung öffentlicher Aufträge, von Dienstleistungen und der Landwirtschaft – sowohl im Interesse der Türkei als auch der Europäischen Union liegt. Diese Frage an politische Bedingungen zu knüpfen, zeigt, dass Europas strategische Sicht auf die Türkei schwach ist. Denn bei einem Thema, das im Interesse beider Regionen und Länder liegt, müssen wir Fortschritte erzielen. Ich hoffe, dass sich dieser Prozess nach den Wahlen zum Europäischen Parlament beschleunigen wird.

Maliye Bakanı Mehmet Şimşek- ATİAD 8. Ekonomi Günü ve izlenimler

Finanzminister Mehmet Şimşek – ATİAD 8. Wirtschaftstag und Eindrücke

DEUTSCHLAND IST FÜR UNS EIN WERTVOLLES LAND

Finanzminister Mehmet Şimşek wies darauf hin, dass Visaerleichterungen notwendig seien, damit Unternehmer Handel treiben und Geschäfte machen können. Im letzten Teil seiner Rede ging er auf die in Europa lebenden Türkinnen und Türken ein:

„Ihre Präsenz hier verleiht der Türkei Stärke. Das Beste, was Sie hier tun können, ist, erfolgreich zu sein: Lernen Sie die Sprache dieses Landes, halten Sie sich an seine Gesetze und Regeln, schaffen Sie hier Mehrwert, schaffen Sie Arbeitsplätze und integrieren Sie sich in die Gesellschaft. Damit leisten Sie einen sehr großen Beitrag für die Türkei.

Wir sind stolz auf den Erfolg unserer Bürgerinnen und Bürger türkischer Herkunft in Deutschland. Starke Investitionen und enge wirtschaftliche Beziehungen zur Türkei sind für uns von großer Bedeutung. Ich bin überzeugt, dass die türkische Wirtschaft auch in diesem Sinne gute Chancen bietet.

Wir haben sehr starke Verbindungen – gemeinsam sind wir deutlich stärker. Deutschland ist für uns ein sehr wertvolles Land. Wenn ich heute in irgendeine Stadt in der Türkei gehen würde, wäre es unwahrscheinlich, dass ich zu einer derart großen Zahl von Unternehmerinnen und Unternehmern sprechen könnte. Und all dies beschränkt sich selbstverständlich nicht nur auf Handel und Wirtschaft: Vielmehr verbindet uns ein starkes Band zwischen den Menschen, und mit Ihrer Unterstützung möchten wir diese Beziehungen weiter stärken.“

Die vollständige Rede des türkischen Ministers für Schatz- und Finanzwesen, Mehmet Şimşek, können Sie im folgenden Video ansehen.

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Nach den Reden wurden Podiumsdiskussionen zu Themen wie grüne Energie und der Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Geschäftswelt veranstaltet.

Das vollständige Programm des Wirtschaftstags können Sie im folgenden Video ansehen.

MEINER MEINUNG NACH …

Die mit großem Einsatz vorbereiteten Veranstaltungsprogramme sind selbstverständlich sinnvoll und wertvoll. ATİAD hat die Wirtschaftstage zu einer festen Tradition gemacht, und die Beteiligung ist gut.
Allerdings besteht der größte Fehler solcher Veranstaltungen oft in der zu stark komprimierten Programmdichte.

Im Programm des Wirtschaftstags gab es mehr als 25 Rednerinnen, Redner und Teilnehmende. Leider können solche Veranstaltungen eine derart hohe Zahl an Beiträgen kaum verkraften – darüber waren sich viele einig. Die Menschen können sich angesichts der heutigen Zeit und ihrer Dynamik nur noch begrenzt auf dichte und schwere Inhalte konzentrieren. Nachdem die Star-Gäste die Veranstaltung verlassen, lässt das Interesse deutlich nach.

Der türkische Teil des Programms war insgesamt sehr wohlmeinend und konstruktiv. Minister Mehmet Şimşek hielt eine Rede, die mir gefiel: wie ein Ökonom, wie ein Diplomat, wie ein Politiker, wie ein Arbeitgeber – kurz gesagt wie ein klassischer Pragmatiker. Es war keine Rede für Schönfärberei, ebenso wenig kam ein Scheitern infrage; es war eine Rede, so wie sie sein sollte.

Ministerpräsident Wüst hielt in ähnlicher Weise eine klassische, sachliche Rede mit klaren Botschaften. Finanzminister Lindner nahm per Videobotschaft teil – ebenso wie der Oberbürgermeister der Gastgeberstadt Düsseldorf, Stephan Keller. Dass Minister Lindner möglicherweise nicht persönlich anwesend sein konnte, ist nachvollziehbar. Dass Oberbürgermeister Keller jedoch nicht persönlich teilnahm, habe ich – mangels Kenntnis der Gründe – als irritierend empfunden und mit einem Minuspunkt bewertet.

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